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Leroy Phoenix

über Luft und Schatten

Kapitel 1 - Begegnung
Ein plötzliches Klopfen an der Fensterscheibe riss Leroy
jäh aus seinen Überlegungen. Ein Anklopfen an der Scheibe
war immer etwas Besonderes. Immerhin befand sich das
Arbeitszimmer des jungen Magiers im obersten Stockwerk.
Das Pochen am Fenster wurde immer eindringlicher. Leroy
stand auf, um die Scheibe einen Spalt aufzuschieben. Sofort
vertrieb ein nasskalter Luftzug die behagliche Wärme der
Wohnung. Ein kleiner Kauz hüpfte zeternd in das Refugium,
machte es sich auf einer Vogelstange bequem und schüttelte
sich. Mit einer schnellen Bewegung schloss der Magier das
Fenster hinter dem Federtier.
„Das machst du mit Absicht“, herrschte ihn der Kauz
an. „Dir macht es Spaß, mich draußen in der Kälte leiden
zu sehen, immer sperrst du die Vogelklappe zu.“ Der Kauz
mit dem Namen Archimedes liebte es noch mehr als Leroy,
Dramatik in eine Situation zu bringen. Der Vogel schüttelte
sich noch einmal bühnenreif, dass die Wassertropfen im
Zimmer herumspritzten.
„Nicht doch“, beschwerte sich der junge Mann,
„Archimedes, pass doch auf, die teuren Bücher!“ Der Kauz
schaute ihn tief gekränkt an und schielte gleichzeitig schräg
an Leroy vorbei, auf die Schokolade, die auf dem Schreibtisch
des jungen Magiers lag.
„Ich bringe eine wichtige Botschaft vom Wächterrat und
das an meinem freien Tag.“
„Du hast keinen freien Tag“, unterbrach der Magier den
Vogel, „oder gibt es eine gewerkschaftliche Vereinbarung der
Vertrautentiere, die mir entgangen ist?“

doch viel mehr wert als ein einfacher Bote, oder, Leroy?“, sprach er, während er unruhig auf seiner Stange auf und ab tippelte, immer unverhohlener auf die Süßigkeit auf dem Schreibtisch starrend.
Archimedes, benannt nach der Eule in dem Klassiker „Die Hexe und der Zauberer“, begleitete Leroy seit über einem halben Jahrzehnt. Seit dem Tag, als er in der Abschlussprüfung zum Meister der Magie einen kleinen Elementargeist in den Kauz beschworen und somit die Lehrlingstage beendet hatte. Erschaffen durch seine Zauberkunst, steckte in dem Kauz ein Luftelementar mit einem guten Teil von Leroys eigener Persönlichkeit. Dies äußerte sich vor allem in dem ausufernden Verzehr von Schokoriegeln.
Der Elementarist brach milde lächelnd ein Stück von der Schokolade ab, um sie in die Krallen des Kauzes zu legen. „Also, was möchte der Wächterrat von mir?“
Kauend und schmatzend erwiderte das Käuzchen: „Der ehrwürdige Wächter de Ville möchte, dass du heute noch dem Rat vorstellig wirst. Es ist wohl etwas vorgefallen, was deiner Aufmerksamkeit bedarf.“ Leroy legte seine Stirn in Falten. Es war ungewöhnlich, dass der Wächterrat ohne Aufschub einen ihrer Mitarbeiter mitten in der Nacht rief. Denn immerhin wollten gerade die höheren Zirkelmitglieder ihre Nachtruhe haben. Also ging es hier nicht - wie so oft - darum, einen Jungmagier in seine Schranken zu weisen und ihn an die Gesetze der Magie zu erinnern. Natürlich musste er auch bedenken, dass Wächter de Ville ihn rief. 



Die Familie Phoenix und de Ville hatten eine lange gemeinsame Geschichte, die sich bis tief in das Mittelalter erstreckte. Doch irgendwann in dieser Vergangenheit hatte es einen Bruch zwischen den Geschlechtern gegeben und jene Zwietracht zeigte noch heute sein hässliches Gesicht.

Dass Leroy den Lebensunterhalt mit Geschichten verdiente,
die an der Wahrheit rührten, jedoch unter dem Deckmantel
der Fiktion existieren durften, schütteten der Fehde immer
wieder Öl ins Feuer. Natürlich tat Leroy sein Möglichstes,
um die Wut auf mittlerer Flamme, kleine Flamme konnte ja
jeder, lodern zu lassen. So gab er dem regelmäßig in seinen
Geschichten auftauchenden Oberfiesling das Aussehen von
Noah de Ville.
„Wo tagt der Wächterrat heute?“, fragte Leroy, während er
Schuhe anzog und eine Motorradjacke überstreifte.
„Der Wächterrat beliebt es, in den Räumen des Hotels
Vier Jahreszeiten zu tagen, um dort wichtige politische
Angelegenheiten von äußerster Tragweite zu besprechen“,
näselte der Kauz in einem leicht hochmütigen Ton, mit dem
er die Stimme von Wächter de Ville erstaunlich gut traf. Mit
einem Seufzen klappte Leroy den Laptop zu und verstaute
den restlichen Vorrat an Nervennahrung in der obersten
Schublade seines Schreibtischs, was Archimedes mit einem
enttäuschten Brummen von der Vogelstange her quittierte.
Das Vier Jahreszeiten galt nicht nur als eine der Topadressen
der Residenzen in London. Mit einem Standort in unmittelbarer Nähe zum Buckingham Palace war das Hotel bei
Diplomaten, auswärtigen Politikern sowie Stars und Sternchen
nebst ihren Paparazzi äußerst beliebt.
Der Wächterrat setzte darauf, dass der Schutz, der über dem Regierungssitz lag, sich auch auf diese Residenz ausweitete. Die symbolische Bedeutung der vier Jahreszeiten und den vier Elementen, Feuer, Erde, Wasser und Wind, die den Hermetikern untertan waren, spielten hier nur eine untergeordnete Rolle. Kopfhörer in die Ohren, Helm auf und Disturbed mit Down with the Sickness auf laut. Mit sanften Vibrationen schnurrte der japanische Wanderfalke über die dunklen Straßen von London.

Mit einem Auto brauchte er knapp eine Stunde, um zum Hotel
in der Innenstadt zu kommen. Mit dem Motorrad sparte er
gute fünfzehn Minuten. Bei seinem Fahrstil signifikant mehr.
Nichts liebte Leroy mehr, als auf seiner Maschine zu sitzen
und zu spüren, wie der Fahrtwind an der Motorradkluft
zerrte. Intuitiv ließ der Wind, sein Element, ihn erahnen, wie
die Fahrzeuge und die Passanten sich bewegten, so dass er
selten langsam fuhr und dennoch elegant um jedes Hindernis
herumkurvte. Die Lichter zogen wie Leuchtstreifen an ihm
vorbei, während er sich dem Rhythmus der Musik hingab
und den Puls der Stadt genoss. Die nächsten Tage würden
anstrengend genug werden. Darum „carpe diem“, nutze
den Augenblick oder wie man das übersetzte. Latein hatte
er noch nie gut gekonnt. Da es kurz vor Mitternacht war,
hatte es nicht viel Verkehr auf den Straßen. Unter der Woche
wirkte die Stadt um diese Uhrzeit menschenleer. Natürlich
waren auch nachts Personen in London unterwegs. Der
Anteil an Nicht-Menschen stieg jedoch signifikant, je dunkler
es wurde. Die Helden der Nachtschichten ausgenommen.
In Rekordzeit bog das Zweirad auf die Zufahrtsstraße des
Hotels ein. Um einen Parkservice kümmerte sich Leroy nicht.
Einer der Vorteile an einem Motorrad war, dass man damit
überall einen Stellplatz bekam. Äußerlich gelassen, parkte
er die Maschine auf der Insel eines Kreisverkehrs inmitten
von ein paar Bäumen, keine fünfzig Meter vom Eingang
des exklusiven Hotels entfernt. Er war sicher, dass der Rat
sein Kommen bereits bemerkt hatte, daher galt es jetzt für
ihn, den schmalen Grat zwischen Gehorsam und Rebellion
zu gehen, den er so gerne beschritt. Den Helm hängte er
einfach ans Lenkrad; dass dieser geklaut werden könnte,
kümmerte Leroy nicht. Er überlegte kurz, ob er seinen fahrbaren Untersatz mit der dicken Eisenkette, die auch in der
Motorradtasche lag, abschließen sollte, entschied dann aber dagegen. Es war sicherer, einen Fuß im Steigeisen zu haben, um schnell wegzukommen, vor allem, wenn man in Begriff war, die Höhle des Löwen zu betreten...

© 2024 Karsten Zingsheim

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